Sexuelle Gewalt

Nicht wenige Menschen, die in Psychotherapie gehen, haben in Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalterfahrungen machen müssen. Viele von ihnen spüren die Auswirkungen noch heute.

Missbrauch ist Gewalt

Ich spreche bewusst von "Gewalt" und nicht von "Missbrauch", weil das Wort "Missbrauch" voraussetzt, dass man einen Menschen auch ge-brauchen könnte, und weil bei Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern wenn nicht körperliche dann auf jeden Fall emotionale Gewalt im Spiel ist: Kinder sind Erwachsenen vollkommen unterlegen und können deren Willen meist nur wenig entgegensetzen. Noch dazu sind sie oft von ihnen abhängig oder haben ein liebevolles Verhältnis zu ihnen.

Kinder sind so verletzbar

Es gibt Kinder, die einen sexuellen Übergriff von Erwachsenen relativ unbeschadet überstehen. In vielen Fällen hat es aber dramatische Auswirkungen auf die kindliche Psyche, wenn Erwachsene - vielleicht sogar Vertrauenspersonen - sich ihnen sexuell nähern. Es können nicht nur ihre psychosexuelle Entwicklung und spätere Sexualität gestört werden, sondern auch ihr Selbstwertgefühl, ihr Verhältnis zu ihrem Körper und ihr Erleben in allen Arten von Beziehungen.

Kinder haben zwar Freude an körperlichem Kontakt und haben auch nicht-sexuelle erotische Interessen, aber eine genitale Sexualität ist ihnen fremd. Also sind sexuelle Übergriffe von Erwachsenen für sie befremdend, verstörend und oft auch traumatisierend.

Paradox: Die Opfer schämen sich und haben Schuldgefühle

Je näher der Täter ihnen stand, je häufiger die Übergriffe stattfanden, je größer der Altersunterschied war und je mehr Geheimhaltung er von ihnen verlangt hat, desto größer ist die Belastung und seelische Schädigung für diese Kinder. 

Sie haben meist schlimme Schuldgefühle, fühlen sich verraten, wertlos und voller Scham, verlieren ihr Vertrauen in die Erwachsenenwelt und entwickeln manchmal sogar das Bedürfnis, sich selbst zu bestrafen.

Die Spätfolgen können gravierend sein

Opfer sexueller Gewalt können sich später schwerer gegen andere durchsetzen und auf ihren Rechten beharren, sie neigen schneller zu Schuldgefühlen und Selbstabwertung und geraten leichter und öfter in größere Krisen. Die seelische Belastung kann zu schweren psychischen Schäden führen - bis hin zu Suchtverhalten, Essstörungen, Selbstverletzung oder Borderline-Störungen.

Wenn die Erinnerungen fehlen

Besonders schwer haben es die Betroffenen, mit ihren Verletzungen durch sexuelle Gewalt umzugehen, wenn sie sich nicht daran erinnern können - entweder weil sie noch zu klein waren oder weil sie die Erlebnisse so schlimm fanden, dass sie sie verdrängen mussten. Dann können sie nämlich noch weniger begreifen, was eigentlich mit ihnen los ist.

Sie sind nicht allein! Die Dunkelziffer ist hoch.

Sexuelle Gewalt gegen Minderjährige kommt häufig vor und in nicht wenigen Familien hat sie über Generationen „Tradition“. Es ist schwierig abzuschätzen, wie oft sie stattfindet, weil die Dunkelziffer hoch ist.

Aber man muss wohl davon ausgehen, dass zwischen 10 und 20 Prozent aller Menschen in ihrer Kindheit oder Jugend davon betroffen waren. Es scheint so zu sein, dass Mädchen häufiger Opfer werden, die Anzahl von Jungen ist aber ebenfalls hoch.

Sexuelle Gewalt ist wichtig in der Therapie

In vielen Fällen ist das Thema des sexuellen Missbrauchs ein zentrales Thema für die seelische Gesundung und sollte deshalb einen würdigen Platz in der Therapie bekommen. Wenn Sie also wissen oder ahnen, dass Sie als Kind oder Jugendlicher Opfer geworden sind, sollten Sie Ihren Therapeuten auch danach auswählen, ob Sie sich vorstellen können, mit ihm darüber zu sprechen.

Der richtige Zeitpunkt

Sie müssen das natürlich nicht sofort in den ersten Stunden tun, denn es ist wichtig, den Zeitpunkt dafür selbst zu bestimmen, und es kann auch gut sein, erst einmal andere Themen zu bearbeiten.

Aber von vornherein ausklammern sollten Sie das Thema der sexuellen Gewalt auf keinen Fall. Denn das kleine Mädchen oder der kleine Junge, der Sie einmal waren, ist mit seinem Leid wahrscheinlich sehr allein gewesen und sollte einmal Raum bekommen, sich zu zeigen und gesehen zu werden.